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Peter Heidenwag schreibt zur Einzelausstellung von Michael Witte REGRESSIVE HYPNOSE AUF SENDUNG in der Galerie der Villa in der Bellalliance Straße 2018:
Weisswurstäquator, Jesus Du (_____) Sohn, Okkult bis in die Knochen, Schütze Amerika Satan, Die Russen sind furchtloser als die Amerikaner, Die 3 Endstationen: Santa Fu, Ohlsdorf Friedhof, Alsterdorf Stiftung, Hamburg muss Autogerechter werden, Mehr Autobahnen für Hamburg, In Brand stecken, Herren Bikinis, Mach mir den Lego Badehose, Steck die Stricknadeln in die Steckdose und fass beide Nadeln an, Ein schönes Kribbeln geht durch Deinen Körper.
Du kannst sogar Deinen Körper verlassen. Elekro-Sensibilität, Herz = Verdrängungspumpe – Ist diese Gleichung gar doppeldeutig gemeint? Warum werden Vampire und Scientology nebeneinander genannt? Was bezwecken diese Slogans? Die Titel klingen nicht immer nach leichter Kost.
Michael Witte setzt sich auf teils charmante, teils humorvolle, aber auch ironische oder doch eher sarkastische und provokante wie zugleich auch offene und ehrliche Art und Weise kritisch mit aktuellen Themen der Gesellschaft auseinander. Es geht um Wohnsiedlungen, Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod, Religion, Scientology, Okkultismus, Kolonialismus, Politik und – wie unübersehbar – um öffentliche Verkehrsmittel bzw. den Nahverkehr einschließlich dessen Verkehrsnetze (Mehr Autobahnen für Hamburg, Hamburg muss Autogerechter werden), um Mobilität, um Wege, Unterwegssein, um Transportmittel und Ströme.
All diese Themen sind gleichzeitig in urbane Lebensräume eingebettet, deren Hauptadern und Öffentlichkeitsnetze teilweise von bemerkenswerter organischer Qualität sind. Sie sind schön, bunt und symbolhaft zugleich. Sie erinnern an Makro- oder Mikrokosmen, an zelluläre Systeme und Querschnitte. Manche Karten scheinen reale Orte wiederzugeben, vielleicht aus einer anderen Zeit. Manchmal erinnern die Bahnen an Nervenstränge oder an den Aufbau eines Gehirns. Organik und Struktur scheinen miteinander verflochten.
Im Umgang mit diesen vielen verschiedenen und nicht immer ganz durchdringbaren An- und Weltsichten fordert Michael Witte die Betrachter heraus, irritiert und entführt sie in einen vagen Raum – vor allem dann, wenn er in manchen Arbeiten seinen Themen eine Welt von Fantasie- bzw. Adventure-Computerspielen und -Geschichten gegenüberstellt.
Ist doch alles nur ein Spiel? Welches Spiel wird gespielt? Worauf kommt es an und wie sind die Regeln? Wie ist was gemeint?
In unserer Benefizversteigerung, die wir vor zwei Wochen veranstaltet haben, war neben Michael Witte ein weiterer Kartograf und Spieler, nämlich der Hamburger Künstler Youssef Tabti, mit einer Arbeit vertreten. Letztens hat er gegen den Außenminister Heiko Maas ein selbst entwickeltes Kriegsspiel im Berliner Hamburger Bahnhof gespielt …
Wie Youssef Tabti ist auch Michael Witte ein Kartograf des Lebens und der Lebensräume, wobei die Räume nicht nur räumlich, sondern auch sozial gemeint sind. Es geht um Lebensumstände und gesellschaftliche sowie politische (teils extreme) Gesinnungen, Verhältnisse und Prozesse.
Michael Witte stellt damit seine Themen nicht nur in seinen eigenen Raum bzw. nicht nur in den Raum seiner Text/Bild-Arbeiten – wenn diese auch häufig flächig angelegt sind –, er stellt sie auch – hier und heute – in unseren Raum und damit zur kritischen Reflexion.
Ich wünsche viel Spaß auf der Entdeckungsreise!
Katha Schulte:
Ein Netz von Zugstrecken ist in Michael Wittes Zeichnungen erste Vorgabe zur Aufteilung des Blatts. Die Übereinstimmungen mit dem Berliner Nahverkehrsnetz sind deutlich. Solche Bahnwege werden Linien genannt, genau wie die Grundfigur beim Zeichnen.
Die Linie schneidet durch die Fläche und verbindet. Und macht aus Menschen Mitfahrer, Sitznachbarn und Kontrolleure. Doch nicht nur Linien gehen durch das Land, auch ein amputierter Fuß taucht verschiedentlich in den Zeichnungen auf. Und ebenso jene andere Figur, der sogenannte Schmuser – dessen Name zu weich klingt, um einfach nur der Gute zu sein.
Er ist gekennzeichnet durch seine wechselnden farbenfrohen Kapuzen, deren Gestaltung an Embleme wie Wappen erinnert. Sie sind neben den Bahnstrecken das einzig farbig gehaltene Element der Zeichnungen.
In der ansonsten reduzierten Formensprache technischer Zeichnungen lassen einige Elemente an Züge und Waggons in Draufsicht denken, andere an Särge, und die Kompartimente größerer Flächen an Wohnsiedlungen ebenso wie an Friedhöfe. Es sind also verschiedene Systeme, die einander durchdringen. Für die Darstellung dieser Wechselseitigkeit nimmt Michael Witte keine Räumlichkeit in Anspruch, sondern entwirft sie zurück in die Fläche.
Dabei nehmen allein die Verkehrswege gelegentlich eine erstaunlich voluminöse, fast organische Qualität an, in welcher sie in Blei- und Buntstift auf das Blatt gelegt sind. Man stelle sich ein Adernsystem mit Unter- und Überführungen vor.
Dass ein Fuß bei lebendigem Leib abstürbe, ist wiederkehrendes Motiv; diese Gleichzeitigkeit, diese Selbstungleichheit eines Körpers, wird als unheimlich empfunden, so unheimlich wie die Zeit selbst. Wie die Teilung Berlins zwischen Ost und West, die es gab, aber nicht mehr gibt, und von deren Existenz doch die topografischen Gegebenheiten Zeugnis ablegen. Wie sie darstellen – die Zeit – auf einem Blatt?
In einer Zeichnung versammelt Michael Witte Knotenpunkte des Berliner Nahverkehrs, ihre Namen und topografischen Verhältnisse. Es entsteht so ein System zeitgeschichtlicher Referenzen, denn jeder dieser Orte war zu seiner Zeit ein wesentlicher Verbindungspunkt innerhalb eines historischen Gefüges. So legen sich auf unauffällige Weise in einer einzigen Planebene verschiedene Zeitschichten ineinander.
Wie Wappen einst im berittenen Kampf zwischen Freund und Feind unterscheiden halfen, so dient Farbe hier der Orientierung und Schaffung von Ordnungssystemen, um durchzusteigen durch eine vielgestaltige Wirklichkeit.
So wie der „Schmuser“ im Schutz seiner Kapuze enthält auch die Art, wie die Haltestellen innerhalb der Verkehrsröhren liegen, bei aller Reduktion der Darstellungsmittel doch ein Moment des Eingehüllten, Bewahrten. Diese Gebilde erinnern an Kokons, ohne dabei jemals etwas anderes zu sein als Elemente von Schaltplänen, Lageplänen. Wie zwei dieser langgestreckten Zellen so nebeneinanderliegen und einen leeren Kern umfassen – von ihnen wegführend nach oben und unten je eine Bahnstrecke –, erhalten sie eine ungeahnte, anrührende Anmut und Biegsamkeit.
Aber es sind doch nur Gleislagepläne. Eben.
Zeichnung ist hier Wissensorganisation, Entzifferungsarbeit und zugleich apotropäische Handlung, um Dämonen abzuwehren und Schaden fernhalten.
Andreas Schlaegel schreibt zur Ausstellung Back in Town im Kunsthaus Hamburg 2014 über die Zeichnungen von Michael Witte:
Eine der Zeichnungen kartografiert eine Siedlung, inklusive Anbindung an den Regionalverkehr mit Verbindungen ins Umland von Berlin. Ergänzt wird die von blaugrünen Baumkronen dominierte Karte um kleine, beiläufig wirkende Notizen: die Daten der Weltkriege, eine kleine Skizze von BRD und DDR, die menschliche Anatomie mit Lunge und Magen und das rätselhafte Wort Trichloräthylenblau [1]. Dieser Bewusstseinsstrom, der unterschiedliche Fakten- und Fantasieschnipsel vermengt, offenbart ein ausgeprägtes Interesse an künstlerischer Spekulation zur deutschen Hauptstadt. In einer weiteren Zeichnung, mit farbig abgestuften Ortsteilen und einem idealisierten U-Bahnplan, mit Notizen zu verschiedenen Kirchen, etwa die »Church of Scientology«, »Church of England« und »Church of Satan« setzt sich dies fort. Gut möglich, dass es diese Kirchen tatsächlich in Berlin gibt, aber faszinierend an Wittes Arbeiten ist die Umdeutung des Bestehenden, die die ohnehin als Symbol überstrapazierte Stadt als Struktur für neue Lesarten öffnet. Der Künstler entwickelt ein eigenes Farbenprogramm für die Berliner Bezirke, um in der nächsten Arbeit wie nebenbei den Entwurf für einen sportlichen Berlin-Kapuzenpulli vorzustellen. Der wirkt so überzeugend, dass er beinahe als urbanes Fundstück durchgehen könnte, wie die bunten Plastikdeckel oder andere profane Gebrauchsmaterialien, aus denen Antje Bromma ihre Leuchter bastelt. Mit Schnüren an einem Gerüst befestigt, und eben nicht aus Kristall, entfalten sie dennoch ein heiteres Spiel mit Licht und Schatten auf den Wänden und den Kunstwerken darauf. Dieses spielerische Ineinandergreifen der einzelnen Werke in der Ausstellung setzt den Ton für die Betrachtung, in dem das Motiv der Stadt weitergeführt wird.
Andreas Schlaegel
[1] Es gibt keine Substanz mit dieser Bezeichnung, das Wort ist wohl eine Zusammenziehung der Bezeichnungen zweier anderer Stoffe: dem farblosen und gesundheitsgefährdenden Lösungsmittel Trichlorethylen, und Methylenblau, einem Farbstoff, der seit Mitte des 19. Jahrhunderts dazu eingesetzt wird, am lebenden Organismus Gewebe einzufärben.
English Version
Katha Schulte writes about Michael Witte’s work:
Michael Witte starts by using a network of train lines to divide up the surface of his drawings. There is a clear correspondence to the Berlin local transport system. Train tracks such as these are called lines, as is the basic mark in drawing.
The line cuts through surfaces and makes connections which, out of people, creates fellow passengers, neighbours and ticket collectors. And it’s not only lines that pass through the landscape, an amputated foot emerges in the drawings every now and then. As does another figure: the so-called charmer (the “Schmuser”) – whose name sounds too good to be true.
He can be identified by his changing brightly-coloured hoods, with patterns reminiscent of emblems or coats of arms. These and the train lines are the only coloured parts of the drawings.
In the otherwise sparse formal language of technical drawing, some elements pictured call to mind trains and carriages as seen from above, others coffins, and the compartmentalisation of larger surface areas on housing estates or cemeteries. Here, we have different systems which permeate one another. To depict this reciprocity, Michael Witte doesn’t use three-dimensional space, he reflects it on a two-dimensional surface.
Only the transport routes often assume a surprisingly voluminous, organic quality, rendered on the page in graphite and coloured pencil. One can picture an arterial system with subways and flyovers.
A recurring motif is the dying foot attached to a living body; this simultaneity, this self disequilibrium of body, is experienced as uncanny, as uncanny as time itself. Just like the division of Berlin into East and West – now non-existent, and yet to whose existence topographical features still bear witness. How can this thing called time be depicted in two dimensions?
In one drawing, Michael Witte brings together intersections in the Berlin local transport system, their names and topographical relations. Thus, a system of contemporary historical references is created, as each of these locations was, in its day, an important juncture within a historical framework. In this inconspicuous way, different time periods in history merge together in a single layer.
Just as coats of arms once helped distinguish between friend and foe in the midst of battle, colour helps here with orientation and the creation of systems for order, to navigate a highly diversified reality.
Like the “Schmuser” in his hood, in spite of its simplification the stops along the traffic pipes are depicted in a manner that still manages to encapsulate a moment of envelopment, of preservation. These shapes are reminiscent of cocoons without ever being anything other than elements of circuit diagrams and site plans. The way in which two of these elongated cells lie alongside one another, encircling a hollow core – one train line leading away from them above and one below – gives them an unexpected, touching grace and pliancy.
But they are really only track layout plans. After all.
Here, drawing is simultaneously the organisation of knowledge, a deciphering process, and the apotropaic act of warding off demons and keeping harm at bay.
Andreas Schlaegel writes about Michael Witte’s work (Back in Town, 2014, Kunsthaus Hamburg):
As in Michael Witte’s drawings, for instance, one of which maps out a residential estate, including regional transport connections to the outskirts of Berlin. The map, dominated by blue-green treetops, is dotted with brief, apparently incidental annotations: dates of the world wars, a small sketch of the Federal Republic of Germany and the former East Germany, human anatomy with lungs and stomach and the mysterious word Trichloräthylenblau [1]. This stream of consciousness, mixing various snippets of fact and fantasy, reveals a distinct interest in artistic speculation vis-à-vis the German capital.
Another drawing continues this theme, with the districts in graduated tones and an idealised UBahn (subway stations) map, with notes on different churches, such as Church of Scientology, Church of England and Church of Satan. It is quite possible that these churches do exist, but what is fascinating about Witte’s work is the reinterpretation of that which already exists, liberating the city from its role as an overused symbol, for new forms of interpretation. The artist invents his own colour key for the Berlin districts, only to present in the next work, as an after-thought, a design for a casual Berlin hooded sweatshirt. This is so convincing that it could almost pass for an urban found object, such as the bright plastic lids or other mundane functional materials which Antje Bromma uses to make her lights. Laced to a frame with cords and definitely not crystal, they still produce a cheerful play of light and shadow on the walls and the art works. This playful engaging of individual artworks with one another sets the tone for the way in which the city motif is portrayed.
Andreas Schlaegel
geboren / born 1962 in Hamburg
lebt und arbeitet / lives and works in Hamburg
Regressive Hypnose auf Sendung, Galerie der Villa, Bellealliancestr., Hamburg
Die Bedürfnisanstalt, Hamburg
MC >>> PLACE 3 Fachbuchhandlung Sautter und Lackmann
Bellealliance #4 Ohne Ende, Galerie der Villa, Bellealliancestr., Hamburg
Benefiz-Versteigerung, Künstlerhaus FAKTOR e.V., Hamburg
Mixed Company ››› mixed places, Hamburg
P/Art, Hamburg
Mixed Company ›››, freitagssalon, Hamburg
Back In Town, Kunsthaus Hamburg
© Galerie der Villa 2024